Gedichtanalyse: „Giersch“ von Jan Wagner

Gedichtanalyse Giersch von Jan Wagner

Einleitung

Jan Wagner, geboren 1971, zählt zu den renommiertesten deutschen Lyrikern seiner Generation. Mit einer feinen Beobachtungsgabe und einem Gespür für Sprachmelodien schafft er es, alltägliche Begebenheiten und Naturphänomene in ein neues Licht zu rücken. Sein Gedicht „giersch“, welches 2014 erstmals im Gedichtband „Regentonnenvariationen“ veröffentlicht wurde, ist ein eindrucksvolles Beispiel für seine Fähigkeit, scheinbar einfache Themen tiefgründig und facettenreich zu behandeln.

Epoche der Postmoderne

Das Erscheinungsjahr des Gedichts, 2014, ordnet es in die Epoche der Postmoderne ein. Diese Epoche, die sich grob ab den 1960er Jahren bis in die Gegenwart erstreckt, ist geprägt durch eine Abkehr von den großen Erzählungen und Ideologien des 20. Jahrhunderts. In der Literatur zeigt sich dies durch eine spielerische und oft ironische Auseinandersetzung mit Sprache, Formen und Inhalten. Traditionelle Gattungsgrenzen werden aufgebrochen und es entstehen hybride Textformen. Jan Wagners „giersch“ spiegelt diese postmoderne Herangehensweise wider, indem es mit der Form des Sonetts spielt und dabei traditionelle Strukturen aufbricht.

giersch

nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen – darum
die blüten, die so schwebend weiss sind, keusch
wie ein tyrannentraum.

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weisses wider-

standsnest emporschiesst, hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall spriesst, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

Jan Wagner und „giersch“

Jan Wagner hat sich im Laufe seiner Karriere durch seine einzigartige Herangehensweise an die Lyrik einen Namen gemacht. Seine Gedichte sind oft von einer tiefen Naturverbundenheit geprägt, wobei er es versteht, diese mit aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Themen zu verknüpfen. „giersch“ ist hierbei keine Ausnahme. Auf den ersten Blick mag es wie eine einfache Beschreibung des Wachstums einer Pflanze erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung offenbart sich eine Vielschichtigkeit, die zum Nachdenken anregt.

Kontext des Gedichtbands „Regentonnenvariationen“

Der Gedichtband „Regentonnenvariationen“, in dem „giersch“ erstmals erschien, ist eine Sammlung von Gedichten, die sich durch ihre präzise Beobachtung der Natur und ihre Fähigkeit auszeichnen, tiefere Bedeutungen und Zusammenhänge zu enthüllen. Wagner spielt in diesen Gedichten oft mit Worten und Bildern, um den Leser dazu zu bringen, die Welt aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. „giersch“ fügt sich nahtlos in diese Sammlung ein und steht exemplarisch für Wagners Kunst, das Alltägliche in etwas Besonderes zu verwandeln.

Formale Struktur

Das Sonett als formale Struktur

Das Sonett, eine Gedichtform, die ihren Ursprung in der italienischen Renaissance hat, besteht traditionell aus 14 Versen, die in ein bestimmtes Reimschema eingebettet sind. Jan Wagners „giersch“ folgt dieser Struktur, wobei es in vier Strophen unterteilt ist: zwei Quartette gefolgt von zwei Terzetten. Diese Form verleiht dem Gedicht eine gewisse Ordnung und Struktur, die in starkem Kontrast zur wilden und unkontrollierten Natur des Gierschs steht, der im Gedicht beschrieben wird.

Besonderheiten in „giersch“

Obwohl „giersch“ der formalen Struktur eines Sonetts folgt, gibt es einige auffällige Besonderheiten. Eine davon ist die durchgängige Kleinschreibung. Diese Entscheidung könnte als eine Abkehr von traditionellen Normen und als ein Mittel zur Betonung der Gleichheit aller Worte und Bilder im Gedicht interpretiert werden. Darüber hinaus weist das Gedicht kein festes Versmaß auf, was dem Text einen freieren und weniger vorhersehbaren Rhythmus verleiht. In der letzten Strophe ist zudem ein Paarreim zu erkennen, der dem Gedicht einen abschließenden und zusammenfassenden Charakter verleiht.

Wortwahl und Stil

Vielfältige Wortwahl

Jan Wagner ist bekannt für seine Fähigkeit, eine reiche und oft unerwartete Wortwahl in seine Gedichte einzubringen, und „giersch“ ist hierbei keine Ausnahme. Wörter wie „tyrannentraum“, „kassiber“ und „gischt“ sind nicht nur selten im alltäglichen Sprachgebrauch zu finden, sondern tragen auch zur Tiefe und Mehrdeutigkeit des Gedichts bei. „Kassiber“, beispielsweise, ein Begriff aus der Gaunersprache, der heimliche Nachrichten bezeichnet, verleiht dem Gedicht eine zusätzliche Dimension von Geheimnis und Verborgenheit.

Wortspiele und Doppeldeutigkeiten

Ein weiteres herausragendes Merkmal von Wagners Schreibstil sind die geschickten Wortspiele und Doppeldeutigkeiten, die er in seine Werke einfließen lässt. Im Gedicht „giersch“ macht er auf das Wort „Gier“ im Namen des Unkrauts „giersch“ aufmerksam, was eine tiefere Bedeutungsebene hinzufügt. Das Wort „gischt“, das normalerweise den Schaum auf bewegtem Wasser bezeichnet, wird hier verwendet, um die rasche und unaufhaltsame Ausbreitung des Gierschs zu beschreiben. Solche Wortspiele laden den Leser ein, über die wörtliche Bedeutung hinauszudenken und tiefer in die Botschaft des Gedichts einzutauchen.

Inhaltliche Analyse

Der habsüchtige Charakter des Gierschs

In der ersten Strophe des Gedichts wird der habsüchtige Charakter der Pflanze Giersch hervorgehoben. Dies wird nicht nur durch den direkten Hinweis auf das Wort „Gier“ im Namen der Pflanze deutlich, sondern auch durch die Beschreibung ihrer weißen Blüten, die einem „tyrannentraum“ ähneln. Dieses Bild vermittelt dem Leser das Gefühl einer unschuldigen äußeren Erscheinung, die eine dunklere, dominierende Natur verbirgt.

Die unaufhaltsame Ausbreitung

Die folgenden Strophen beschreiben die unaufhaltsame und oft heimliche Ausbreitung des Gierschs. Durch Begriffe wie „kassiber“ und „weißes widerstandsnest“ wird die Idee vermittelt, dass der Giersch sich im Verborgenen ausbreitet, bis er plötzlich und unerwartet die Oberfläche durchbricht. Dieses Bild der heimlichen Ausbreitung wird durch die Beschreibung des Gierschs, der „hinter der garage, beim knirschenden kies, der kirsche“ wächst, weiter verstärkt.

Dominanz und Übernahme

Die letzte Strophe des Gedichts zeigt die vollständige Dominanz des Gierschs über den Garten. Der wiederholte Gebrauch des Wortes „giersch“ in den letzten Versen betont die Allgegenwärtigkeit und Übermacht der Pflanze. Das Bild des Gierschs, der „bis hoch zum giebel kriecht“, vermittelt dem Leser das Gefühl einer vollständigen Übernahme und Unterwerfung des Gartens durch das Unkraut.

Tiefere Bedeutungen und Interpretationen

Obwohl das Gedicht auf den ersten Blick eine einfache Beschreibung des Wachstums einer Pflanze zu sein scheint, deutet die Wortwahl und die Struktur des Gedichts auf tiefere Bedeutungen und Interpretationen hin. Die Verwendung von Begriffen mit politischen und gesellschaftlichen Konnotationen, wie „tyrannentraum“ und „kassiber“, lässt den Leser darüber nachdenken, ob der Giersch als Metapher für andere Formen der Ausbreitung und Dominanz in der Gesellschaft steht.

Formale Gestaltung

Enjambements und ihre Wirkung

Ein markantes Merkmal von Jan Wagners „giersch“ sind die zahlreichen Enjambements, die sich durch das gesamte Gedicht ziehen. Ein Enjambement, bei dem ein Satz oder eine Phrase über das Ende einer Zeile oder Strophe hinausgeht, ohne durch ein Satzzeichen unterbrochen zu werden, verleiht dem Gedicht einen fließenden Rhythmus. In „giersch“ erzeugen diese Enjambements eine Spannung, die den Leser dazu anregt, weiterzulesen und den Gedankenfluss des Dichters zu verfolgen. Besonders bemerkenswert sind die Strophenenjambements zwischen den Strophen 2 und 3 sowie 3 und 4, die die Grenzen zwischen den Strophen verwischen und die Idee der unaufhaltsamen Ausbreitung des Gierschs weiter verstärken.

Spiel mit der Sonettform

Obwohl „giersch“ der Struktur eines Sonetts folgt, spielt Wagner mit dieser Form, indem er sie mit modernen Elementen und einer freieren Versstruktur kombiniert. Dieses Spiel mit der traditionellen Sonettform kann als Reflexion der postmodernen Tendenzen in Wagners Werk gesehen werden. Das Sonett, das traditionell als eine der strengsten und geordnetsten Gedichtformen gilt, wird in „giersch“ durch die Enjambements und die unkonventionelle Wortwahl aufgebrochen, was die Idee der Unordnung und des Chaos, die durch die Ausbreitung des Gierschs symbolisiert wird, weiter unterstreicht.

Metaphorische Bedeutung

Giersch als Metapher

Das zentrale Element des Gedichts, der Giersch, dient nicht nur als Beschreibung einer Pflanze, sondern trägt auch eine tiefere metaphorische Bedeutung. Die Art und Weise, wie der Giersch sich ausbreitet, unaufhaltsam wächst und letztlich den gesamten Garten dominiert, kann als Symbol für Kräfte oder Ideen in der Gesellschaft gesehen werden, die sich auf ähnliche Weise ausbreiten und dominieren.

Politische und gesellschaftliche Untertöne

Die Verwendung von Begriffen wie „tyrannentraum“ und „kassiber“ im Gedicht weist auf politische und gesellschaftliche Untertöne hin. Diese Begriffe, die mit Macht, Kontrolle und heimlicher Kommunikation in Verbindung gebracht werden, könnten darauf hindeuten, dass der Giersch als Metapher für politische Bewegungen oder Ideologien dient, die sich heimlich ausbreiten und schließlich die Kontrolle übernehmen. Dies wird durch die unaufhaltsame und oft heimliche Ausbreitung des Gierschs im Gedicht weiter verstärkt.

Reflexion über Natur und Gesellschaft

Jan Wagners Gedichte sind oft von einer tiefen Reflexion über die Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft geprägt. In „giersch“ könnte die Pflanze als Symbol für die unaufhaltsamen Kräfte der Natur dienen, die, wenn sie nicht kontrolliert werden, die von Menschen geschaffene Ordnung überwältigen können. Dies könnte als Warnung oder Reflexion über die Art und Weise gesehen werden, wie die Gesellschaft mit natürlichen Ressourcen und Kräften umgeht.

Schluss

Jan Wagners „giersch“ ist ein beeindruckendes Beispiel für die Tiefe und Vielschichtigkeit der modernen Lyrik. Auf den ersten Blick mag es wie eine einfache Beschreibung des Wachstums einer Pflanze erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung offenbart es eine Fülle von Bedeutungen und Interpretationen. Die formale Struktur, die Wortwahl, die inhaltliche Analyse und die metaphorische Bedeutung des Gedichts bieten zahlreiche Ansatzpunkte für eine tiefgehende Auseinandersetzung.

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Mit „giersch“ hat Jan Wagner ein Gedicht geschaffen, das nicht nur durch seine sprachliche Schönheit besticht, sondern auch zum Nachdenken anregt und den Leser dazu einlädt, über die Beziehung zwischen Natur, Gesellschaft und Politik zu reflektieren.

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