
Der Zeilensprung gehört zu den lyrischen Stilmitteln. Er wird auch als Versbrechung oder Enjambement bezeichnet. Die französische Bezeichnung Enjambement, die sich vom französischen „enjamber“ (dt. überspringen) ableitet, deutet dabei schon sehr gut an, worin das Stilmittel besteht. Bei einem Zeilensprung wird das Versende gewissermaßen „übersprungen“ und ein Satz oder eine Bedeutungseinheit im folgenden Vers fortgesetzt. Es handelt sich damit um eine Abweichung vom normalerweise in Gedichten genutzten Zeilenstil, bei dem das Satzende regelmäßig am Versende liegt. Der Zeilensprung kommt nur in schriftlicher Form zur Geltung und nicht in der gesprochenen Sprache. Werden Zeilensprünge innerhalb eines Gedichtes sehr häufig genutzt, wird das als Hakenstil bezeichnet.
Verdeutlichen lässt sich der Zeilensprung am besten in Form von Beispielen:
Beispiel Zeilenstil:
Gottfried Keller: Winternacht (1.Strophe)
Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee.
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.
Hier bildet jeder Vers eine Sinneinheit, die auch durch durch die Satzzeichen an den Versenden deutlich erkennbar ist. Am Ende jeder Zeile entsteht dadurch beim Lesen eine Pause, auch Zäsur genannt. Daraus ergibt sich ein rhythmischer Lesefluss.
Beispiel Zeilensprung:
Friedrich Hölderlin: Abendphantasie (1.Strophe)
Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
Der Pflüger; dem Genügsamen raucht sein Herd.
Gastfreundlich tönt dem Wanderer im
Friedlichen Dorfe die Abendglocke.
Hier wird der Sinnabschnitt der ersten Verszeile in der zweiten Zeile fortgeführt. Ebenso verhält es sich in den Zeilen drei und vier. Dadurch entfällt die Zäsur und Lesefluss und Struktur weichen vom Zeilenstil ab.
Verschiedene Formen des Zeilensprungs
Schwaches Enjambement: Der Satz wird gebrochen, aber einzelne satzbauliche Einheiten bleiben zusammen stehen.
Beispiel:
Friedrich Hölderlin: Abendphantasie
Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
Der Pflüger; dem Genügsamen raucht sein Herd.
Starkes Enjambement: Eine satzbauliche (syntaktische) Einheit wird gebrochen. Es kann sich beispielsweise um Artikel und Nomen oder Adjektiv und Nomen handeln.
Beispiel:
Friedrich Hölderlin: Abendphantasie – zur Verdeutlichung leicht abgewandelt
Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt der
Pflüger; dem Genügsamen raucht sein Herd.
Morphologisches Enjambement: Ein Wort wird aufgebrochen und auf verschiedene Zeilen aufgeteilt.
Beispiel:
Neujahrsmorgen
eine Krähe hum-
pelt über die Straße
(Hans-Peter Kraus)
Strophenenjambement: Der Zeilensprung erfolgt nicht nur zwischen den Zeilen eines Verses, sondern über Strophengrenzen hinweg. Ein Satz aus der letzten Zeile von Strophe 1 würde dementsprechend in der ersten Zeile von Strophe 2 fortgeführt werden. Die formalen Begrenzungen des Gedichtes werden dadurch gelöst.
Interpretation des Zeilensprungs
Welche Funktion ein jeweils Stilmittel hat, lässt sich natürlich nur im konkreten Zusammenhang wirklich interpretieren. Mit einem Zeilensprung sind jedoch meist recht spezifische Effekte verbunden:
- Die starre Form der gängigen Gedichtstruktur wird durchbrochen und verändert. Die veränderte Struktur kann zum Beispiel inhaltliche Verbindungen oder eine besondere Betonung signalisieren.
- Die Zäsur am Versende fällt weg, dadurch wird der Lesefluss weniger rhythmisch und fließender oder aber stockender. Inhaltliche Zusammenhänge oder Brüche können so betont werden.