Gedichtanalyse/Interpretation – Natur und Kunst, J.W. Goethe

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Interpretation - Natur und Kunst, J.W. Goethe

Einleitung

Das Gedicht „Natur und Kunst“ steht beispielhaft für Goethes leidenschaftliches Verfassen von Sonetten, eine Gedichtform, die ursprünglich in Italien entstanden ist. Es gibt keine genauen Informationen darüber, wann und wo Goethe das Gedicht verfasst hat, jedoch wird es allgemein als ein Meisterwerk der Sonettkunst anerkannt.

Nach der Veröffentlichung von „Natur und Kunst“ wurde ein Teil des Gedichts in das Theaterstück „Was wir bringen, Vorspiel bei der Eröffnung des neuen Schauspielhauses zu Lauchstädt“ um 1802 übernommen. Einige Jahre später, in 1818 wurde es außerdem in Zelters „Liedertafel“ veröffentlicht.

Insgesamt hat das Gedicht einen altmodisch erscheinenden Stil mit einer relativ komplexen Sprache und ist daher nicht unbedingt einfach zu lesen, beziehungsweise schnell erschließbar. Diese Komplexität ist repräsentativ für Goethe´s Gedichte und gibt diesen einen einzigartigen Stil.

Inhaltswiedergabe

Das Gedicht beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Natur und Kunst und deren Platz in der Gesellschaft. Dabei wird Natur als etwas Willkürliches und Kunst als etwas Geplantes und Schöpferisches gesehen.

Durch die Strophen hindurch werden diese Begriffe voneinander getrennt und gleichzeitig in Verbindung gebracht. Eine Anthithese in der ersten Strophe bringt dies zur Geltung. Hier heißt es, dass Natur und Kunst voneinander „fliehen“ und wenig später wieder „gefunden“ haben.

Das lyrische Ich spricht von einer Anziehungskraft, die sowohl die Kunst, als auch die Natur auf ihn ausüben. Die zweite Strophe steht im Gegensatz zur ersten. Während erstere sich mit dem lyrischen ich selbst beschäftigt hat, so behandelt die zweite gesellschaftliche Regelwerke und Normen.

Das lyrische Ich bemerkt, dass selbst wenn sich der Betrachter an die Kunst bindet und sie beginnt zu verstehen, wird er wenig später von der Freiheit der Natur ergriffen. Letztendlich sind die Regelwerke das, was dem lyrische Ich seine Freiheit geben.

Strukturanalyse

Das Gedicht besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten und ist folglich ein Sonett. Die Verse haben einen Jambus als Rhythmus und eine weibliche Kadenz. Das Reimschema ist: ABBA, CDDC, EFG, EFG. Dies bedeutet, dass die Quartette einen inneren, voneinander unabhängigen Reim haben.

Bei den Terzetten reimen sich die jeweiligen Verse. Genauer, der erste Vers der dritten Strophe reimt sich mit dem ersten Vers der vierten Strophe, sowie sich der zweite Vers der dritten Strophe mit dem zweiten Vers der vierten Strophe reimt und dasselbe gilt für den dritten Vers beider Strophen. Im Hinblick auf den Bau der jeweiligen Verse, ist jeder ein abgeschlossener Satz oder Satzteil, meist getrennt durch ein Satzzeichen. In der zweiten Strophe werden der zweite und dritte Vers durch ein Enjambement miteinander verbunden.

Ein weiteres Enjambement befindet sich in der dritten Strophe zwischen Vers zwei und drei. Das Sonett ist nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich getrennt.

Die erste Strophe beschreibt die Verbindung von Natur und Kunst, die folgende Strophe beschäftigt sich mit der Interpretation und Anerkennung von Kunst und den gesellschaftlichen Normen. Die letzten zwei Strophen beschäftigt sich mit dem Regelwerk solcher Interpretation und inwiefern Freiheit und Regeln zusammenhängen.

Sprachanalyse

Goethe hat eine relativ komplexe Sprache gewählt, die dem Gedicht eine gewisse Schwere gibt. Dies kommt beispielsweise durch die Satzstellung zum Ausdruck. Bereits der erste Satz wird durch die Einfügung des weiteren Subjekts „sie“ verkompliziert: „Natur und Kunst, Sie scheinen sich zu fliehen“.

Außerdem ist das Gedicht in altdeutsch geschrieben, weshalb noch „ß“ für „ss“ benutzt wird. Im Hinblick auf den Rhythmus und Sprachfluss beinhaltet das Gedicht viele Alliterationen, wie „sie, scheinen, sich“, „Bildung beschaffen“ oder „Wer, will“. Diese geben dem Gedicht einen fließenden Rhythmus.

Der erste Vers eröffnet mit einer Antithese, die den Unterschied zwischen Kunst und Natur unterstreicht. Anfangs „fliehen“ beide voneinander, während sie sich später „gefunden“ haben. Diese Illustration von den zwei Hauptkonzepten und deren Verbindung taucht noch mehrmals innerhalb des Gedichts auf und bestimmt dieses.

Außerdem benutzt Goethe einige altdeutsche Wörter und Redewendungen, beziehungsweise unausgeschriebene Worte, wie „abgemeßnen Stunden“ oder „Mag frei Natur im Herzen wieder glühen“.

Interpretation

Das Gedicht „Natur und Kunst“ könnte durchaus Goethes Gedanken widerspiegeln und somit kann davon ausgegangen werden, dass das lyrische Ich und Goethe identisch sind. Goethe, seiner Zeit ein leidenschaftlicher Dichter und dadurch Künstler beschrieb oftmals die Probleme der Muse und Fleiß beim Schreiben eines Gedichts. Er beschreibt, dass er mit „Geist und Fleiß […] an die Kunst gebunden [ist]“.

Das Erschaffen von Kunst ist seiner Meinung nach mit Problemen und Versuchungen behaftet. Die „Natur“ versucht den Künstler immer wieder von seiner eigentlichen Arbeit abzulenken, weshalb es viel Disziplin benötigt, sich der Kunst hinzugeben. Goethe beschreibt dies mit dem Vers: „Wer Großes will, muss sich zusammenraffen“.

Der Rhythmus und die Alliterationen innerhalb des Gedichts komplementieren dem Charakter des Gedichts und können als Illustration des Künstlerischen verstanden werden. Auf der anderen Seite, wird Kunst als etwas gesehen, dass mit Disziplin gemeistert werden muss. Nur wer sich bindet und beschränkt, kann Kunst schaffen. Dabei werden Regeln und Gesetze als Weg zur Freiheit gesehen.

Dies ist besonders interessant und ein umstrittenes Argument. Die Idee, dass Regeln Freiheit schaffen ist auch heutzutage noch vorhanden. Ein Beispiel für Freiheit schaffende Regeln ist die Straßenverkehrsordnung. Für einen sicheren Umgang und gegenseitige Rücksichtnahme werden einheitliche Regeln benötigt. Diese Regeln beschränken alle Verkehrsteilnehmer zu einem gewissen Grad. Beispielsweise kann nicht jeder so schnell fahren, wie er oder sie möchte und muss an einer roten Ampel anhalten.

Auf der anderen Seite ermöglichen diese simplen und Individuen beschränkenden Regeln einen beinahe unfallfreien Umgang miteinander ohne jegliche Art von Kommunikation. Fahrradfahrer, Autofahrer und Fußgänger wissen alle, dass man bei einer roten Ampel anhalten muss und müssen sich nicht vorher abstimmen, wer fährt und wer nicht. Dadurch werden sie selbst in ihrem Verhalten freier, da sie schneller handeln können. Dieses Beispiel von festen Regeln zeigt, dass Regeln durchaus auch eine gewisse Freiheit kreieren, zumindest innerhalb dieses Regelwerks.

Schluss

Alles zusammenfassend spricht das Gedicht verschiedene Gruppen an. Auf der einen Seite kann vermutet werden, dass es direkt von Goethe und seinen Erfahrungen und Gefühlen berichtet. Dies beinhaltet seine Bemühungen literarisch hochwertige Texte zu verfassen und Muse für neue Texte zu finden.

Dabei beschreibt er das Erschaffen von Kunst als Kampf gegen das Willkürliche und die Natur, der nur durch leidenschaftliches Bestreben gewonnen werden kann. Auf der anderen Seite gibt Goethe in seinem Gedicht „Natur und Kunst“ ein Regelwerk, das allgemein gültig für die gesamte Gesellschaft ist.

Die Probleme, die er beim Erschaffen von Kunst erfährt sind nicht nur seine, sondern werden von anderen Künstlern verschiedener Disziplinen geteilt. Innerhalb einer Künstlerkarriere gibt es immer einen Punkt, an dem man mit sich ringt und in einer Sackgasse steckt. Besonders die letzten zwei Strophen des Gedichts erläutern dieses Problem und zeigen einen Weg aus einer solchen Sackgasse. Nämlich Disziplin und harte Arbeit.

Obwohl das Gedicht schon zwei Jahrhunderte alt ist, können trotzdem Parallelen zu dem heutigen Verhältnis von Kunst und Natur, beziehungsweise Willkürlichem und Regeln gezogen werden. Des Weiteren kann dieses Muster nicht nur auf den Bereich der Literatur, sondern jegliche andere künstlerische und freidenkerische Bereiche angewandt werden. Goethe liefert mit diesem Gedicht ein Rahmenwerk für die moderne Gesellschaft und Zivilisation, welches auch in der damaligen Zeit aktuell war.

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