Tränen des Vaterlandes – Beispiel Gedichtanalyse / Interpretation

Tränen des Vaterlandes - Beispiel Gedichtanalyse

Hier handelt es sich um eine Beispiel-Gedichtanalyse des Gedichtes „Tränen des Vaterlandes“.

Das 1636 verfasste Sonett „Tränen des Vaterlandes“ von einem der bekanntesten deutschen Dichter und Dramatiker der damaligen barocken Zeit Andreas Gryphius, geboren Oktober 1616, thematisiert in tieftrauriger, betroffener Stimmung die Auswirkungen des damaligen 30 jährigen Krieges, der bei Entstehung de Gedichts bereits knappe 18 Jahre andauerte. Neben der Zerstörung von Städten und Gebäuden, der Schändung und Tötung von Menschen sowie der mit einherkommenden Hungersnot und Pest, resümiert Gryphius besonders in seiner letzten, ausdrucksstärksten Zeile seines Gedichts die für ihn als schlimmste empfundene Schandtat des Krieges: das Seelenheil eines jeden einzelnen Individuums.

Heute wird die Zeit, in der Gryphius aufwuchs und lebte, als Barock bezeichnet. Eine Zeit, die vor allem durch den 30 jährigen Krieg, der Europa beherrschte, dominiert wurde. Gryphius war gerade mal 20 Jahre jung, als die Zeilen aus ihm flossen. Wie sehr sein Geist, sein herz und seine Seele von den verheerenden Katastrophen des Krieges betroffen war, spricht aus jedem einzelnen Wort. Besonders das für den Barock klassisch gewordene Motiv des Memento Mori (Alles ist vergänglich) spricht den Leser in jeder einzelnen Zeile des Sonetts an.

Strukturelle Analyse des Gedichts „Tränen des Vaterlandes“

Ob mit das Gedicht von Andreas Gryphius dafür gesorgt hat, dass die Form des Sonetts klassisch für den Barock wurde oder umgekehrt, sei dahin gestellt. Jedenfalls entspricht das Sonett genau der für den Barock typischen Form: Es beginnt mit zwei vierzeiligen Quartetten und schließt mit zwei dreizeiligen Terzetten ab. Auch das Reimschema hat sich an die Strophenform angepasst. So reinem sich die Quartette im umarmenden Reim, während die Terzette durch einen Schweifreim (ccd eed) miteinander verbunden werden. Beim Metrum folgt Gryphius dem klassischen Alexandriner: ein sechshebiger Jambus, mit der Zäsur nach der dritten Hebung.

Inhaltliche Analyse des Gedichts „Tränen des Vaterlandes“

Schon der Titel des Gedichts spricht von unglaublicher Traurigkeit und Verbundenheit. Gryphius arbeitet hier mit einer personifizierten Metapher und wirft gleich eine Antithese in den Raum. Denn eigentlich ist das Wort Vaterland sehr positiv besetzt und setzt für Identifikation, Heimat, Schutz und Geborgenheit. Dass das Vaterland, aber Tränen weint, stellt all diese positiven Konnotationen in Frage. Zur damaligen Zeit galt die Familie als der Schutzraum eines jeden, deren Oberhaupt der Vater war. Weint dieser, so muss es schlimm um die Familie stehen. Weint das Vaterland, so steht es schlimm um das ganze Volk. Der Titel lässt somit einen traurigen, bedrückenden Inhalt vermuten.

Die ersten beiden Quartette beschreiben in sehr drastischer und dramatischer Weise die aktuellen Kriegsgeschehen. Dabei nimmt das erste Quartett, wie auch die erste Zeile eine besondere Rolle ein: Gryphius beginnt das Gedicht mit dem Wort „Wir“. Damit schließt sich das lyrische Ich selbst in die Gruppe aller ein, wie er auch gleichzeitig damit betont, dass es keine Ausnahme vom Ganzen gibt. Denn der herrschende Krieg hat jeden Menschen „verheeret“ und damit verrohrt, ausgebeutet und zum äußersten getrieben. Waren die Völker eins noch frech und haben rasend die Posaunen erklingen lassen, das Schwert blutig geschwungen und die Kanonen donnern lassen, so ist nun jeder Schweiß, Fleiß und auch Vorrat ausgebraucht. Die Menschen leiden und haben nichts mehr, außer das eigene Leben, für das es sich zu kämpfen lohnt. Selbst die Vorräte sind aufgebraucht und die Menschen leiden Hunger. Der Krieg hat die Menschen ausgebeutet und in ihrem Fleiß und Schweiß für das Vaterland zu kämpfen auch all ihre Vorräte mit verzehrt.

Das zweite Quartett beschreibt die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges. Städte und Türme sind zerstört und brennen. Die Kirche bietet keinen Raum von Schutz und Hoffnung mehr, sondern hat sich ebenfalls dem politischen Kriegstreibereien verschrieben. Doch auch das Rathaus wurde zerstört und ebenfalls alle starken kampfwilligen und mutigen Männer hat der Krieg dahin gerafft. Frauen werden vergewaltigt und die Menschen sind verroht, brutal und blutrünstig. Gerade das hier gewählte Oxymoron (Jungfern – geschändet) verstärkt durch die krasse Gegensätzlichkeit dieser beiden Worte den allgemeinen Verfall der Gesellschaft hinsichtlich Ethik, Moral, Anstand und Sitte. Eine bittere Tatsache der damaligen Zeit: Selbst die Unberührtheit und Reinheit einer Frau sind nichts mehr Wert. Das kommt mit dem Verfall religiöser Normen und deren Verstoß gleich. Das Leben aller wird dominiert von Tod, Krankheit und Zerstörung. Dieses Bild kann weder Herz noch Geist eines Menschen aushalten und ertragen. Doch der Krieg ist für die damaligen Menschen in Deutschland brutale Realität.

Die ersten beiden Strophen lassen sich als These und Antithese gegenüberstellen. Während das erste Quartett die Mitschuld der Bevölkerung wie auch die Auswirkungen auf jeden einzelnen Menschen allgemein beschreibt, steht das zweite Quartett mit konkreten Folgen der Zerstörung der ersten Strophe gegenüber.

Das erste Terzett markiert einen dramatisierenden Einschnitt. Denn neben der ganzen Zerstörung und Brutalität ist das Leben der Menschen vor allem durch eine Tatsache geprägt: der Allgegenwärtigkeit des Todes. Nicht nur auf dem Kriegsfeld herrscht Blutvergießen (Schanz), auch unter der Bevölkerung (Stadt) wird gemordet und gestorben. Der Krieg, das Sterben, der Tod ist allgegenwärtig. Das Memento Mori der damaligen Zeit. In diesem Terzett wird auch ein weiteres Mal deutlich, dass Gryphius als lyrisches Ich und Zeitzeuge schreibt. Er ist Kind des Krieges und wächst mit der Allgegenwärtigkeit des Todes auf. 18 Jahre sind seit Kriegsbeginns Land gezogen, so erfahren wir in dem Gedicht. 18 schleppende, mühsame, langsam verstreichende Jahre.

Hier ist auf die Zahlensymbolik zu verweisen: Dreimal sechs.

Wie ist diese Symbolik zu deuten?

Die drei verweist unweigerlich auf die Dreifaltigkeit des christlichen Glaubens. Doch diese heilige Trinität wird im wahrsten Sinne des Wortes mal sechs genommen und die sechs ist die Zahl des Teufels. Vater, Sohn, wie Geist sind verteufelt. Die Menschen leben in der Hölle, fühlen sich verraten und verkauft, haben keine Hoffnung mehr und verlieren ihren Glauben. So allgegenwärtig ist das Sterben, Töten und der moralische Verfall der Gesellschaft. Denn nichts hat mehr einen Wert. Selbst nicht mehr die Reinheit einer Jungfer.

Erst im zweiten Terzett tritt das lyrische Ich aus seiner Beobachter- und Zeitzeugenrolle aus. Es wertet und zieht ein Resümee. Zu erkennen ist dies an dem verwendeten Personalpronomen „ich“ in Zeile 12. Für ihn, das lyrische Ich, Andreas Gryphius, ist der Tod, die Pest, die Zerstörung unglaublich schlimm und fürchterlich, doch die größte Gefahr, den größten Verlust und die größte Gräueltat des Krieges sieht das lyrische Ich darin, dass der „Seelen Schatz so vielen abgezwungen“ wurde. Doch was ist der Seelen Schatz? Der Glaube. Das Vertrauen. Die Hoffnung. Die Liebe. Das Licht. Das Glücklichen. Viele Menschen werden in der Zeit des Krieges und der Zerstörung ihr Selbst verloren haben. Aus der Not heraus. Aus der Sorge um das Überleben der Familie. Aus der Angst heraus selbst zu sterben. Der dreißigjährige Krieg war eine dunkle überaus grausame Epoche für die Menschheit und für ihr Seelenheil. Statt in Friede, Harmonie und Glückseligkeit zu leben, waren ständig Fragen des Überlebens in ihren Köpfen und Herzen präsent. Einst durch die Kirche gelehrte Werte, Normen und Moralvorstellungen waren nicht mehr lebbar. Der Krieg zwang ihnen ihren Seelen Schatz ab, um des irdischen Überleben-Willens. Dass das Herz und die Seele der Menschen so verrohte, das war für das lyrische Ich die schlimmste Folge des Krieges. Sie verloren ihren Glauben, ihre Hoffnung, ihre Zuversicht und dadurch auch ein Stück ihrer Selbst. Es herrschte Misstrauen und Angst, Wut und Verzweiflung. Das sind alles Emotionen und Gefühle, in denen es schwerfällt Liebe, Wärme und Licht zu spenden, zu empfangen und zu sein.

Bezug zum Leben von Andreas Gryphius

Andreas Gryphius ist ein Kind des Dreißigjährigen Krieges. Als er zwei war brach er aus. Als er 32 Jahre alt war, wurde der Krieg als beendet erklärt. Er wuchs in Polen auf, was relativ verschont blieb, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und Gebieten. Doch er reiste auch viel, um zu studieren und sich weiter zu bilden. Diese Reisen brachten ihm das Kriegsgeschehen sehr nahe und er wurde mit der Brutalität und Zerstörungskraft des Krieges unmittelbar konfrontiert. In seinem Sonett „Tränen des Vaterlandes“ verarbeitet er seine Eindrücke, Traurigkeit und Betroffenheit des Krieges. Er zeigt all die ungeheuerlichen Missstände auf, die der Krieg an materiellen wie emotionalen Schäden mit sich bringt und plädiert auf diese Weise für ein Ende des Krieges. Daher kann das Sonett auch als Antikriegsgedicht definiert werden.

Das Leben in der damaligen Zeit war von Unstetigkeit, Unruhe und Unordnung geprägt. Es gab kaum bis keine Sicherheit. Der Wunsch nach Ordnung und Sicherheit schlug in vielen Herzen der Menschen der damaligen Zeit. Gryphius fand seine Ordnung in den strengen Regeln der deutschen Dichtkunst. Die feste Struktur des Sonetts waren sein Anker für eine sonst chaotischen, unbeständigen Alltag.

Bezug zur heutigen Zeit

Wenn man davon ausgeht, dass einer der ausschlaggebenden Gründe der Glaube, explizit die Religionsfreiheit war, so kann das Sonett „Tränen des Vaterlandes“ als Mahnung auch für die heutige Zeit verstanden und interpretiert werden. Denn selbst der Glaube eines Menschen rechtfertigt nicht den Tod, das Sterben, das Unglücklich, die Brutalität und die Zerstörung, die ein Krieg mit sich bringt.

Doch es finden auch heute noch Kriege des Glaubens statt. Ob in Nordirland oder Libanon oder der allgegenwärtige Kampf gegen de Terrorismus, der auch als Glaubenskrieg auf Seiten der Islamisten postuliert wird. Es sind Konflikte, in denen Religion instrumentalisiert wird. Das ist ein Fehler. Denn so wie die Kirche, zur Seiten Gryphius „umgekehret“ (Zeile 5) steht, so ist ein jeder Kampf um Glaube und Religion ein verlorener. Denn im Krieg verlieren die Menschen ihrer Seelenschatz und dieser ist in all jenen Glaubensrichtungen, die sich heute Religionen nennen, der Gleiche: Liebe, Mitgefühl und Menschlichkeit.

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