Die Kurzgeschichte „Ein Traum“ wurde von Franz Kafka 1920 in dem Erzählband „Ein Landarzt“ veröffentlicht. In den folgenden Zeilen wird der Frage nachgegangen, auf welche Weise sich diese Geschichte und ihr überraschendes Ende interpretieren lassen.
Die Geschichte beginnt mit dem Satz „Josef K. träumte:“. Das ist eindeutig. Es ist alles nur ein Traum. Josef K. träumt davon, dass er sich an einem prachtvollen Tag zu einem Spaziergang aufmacht, sich jedoch nach wenigen Augenblicken bereits auf einem Friedhof wiederfindet. Etwas weiter entfernt entdeckt er einen frischen Grabhügel. Da er sich besonders von ihm angezogen fühlt, versucht er, schnell zu ihm zu gelangen.
Der Weg ist allerdings mühsamer als erwartet. Er scheint sich dem Grabhügel nicht nähern zu können, doch plötzlich kommt er an. Er sieht zwei Männer, die einen Grabstein auf die Erde stellen. Es erscheint ein dritter Mann, der für die Grabinschrift zuständig ist. Da zwischen ihm und dem Grabstein der Grabhügel liegt, muss er sich vorbeugen, um seine Arbeit ausführen zu können. Josef K. beobachtet ihn.
Der Künstler ist davon irritiert und blickt sich mehrmals nach Josef K. um. Beide werden verlegen. Der Künstler zögert und ärgert sich abwechselnd. Angesichts der bedauernswerten Lage des Künstlers fängt Josef K. schließlich zu weinen an. Als er sich einigermaßen gefangen hat, arbeitet der Künstler weiter. Allmählich zeichnet sich ab, dass er vorhat, Josefs vollständigen Namen zu schreiben.
Der Künstler stampft mit den Füßen auf den Grabhügel. Josef K. begreift und beginnt, ein Loch in die Erde zu graben und gleitet hinein. Als er unten ankommt, wird er sanft auf den Rücken gedreht und sieht seinen Namen über den Stein ziehen. Die Erzählung endet damit, dass Josef K. voller Entzücken erwacht.
Kafka vermeidet eine lange und umständliche Einleitung. Er erzählt, dass ein Mann träumt. Er träumt von einem Spaziergang, der unversehens zu einem Friedhof führt. Der Leser will sogleich wissen, was weiter passiert. Kafka sorgt auch mit der weiteren Erzählweise für gespannte Erwartung beim Leser.
Zunächst erreicht Josef K. den Grabhügel nur mit Mühen. Die Spannung löst sich, als er den Grabhügel erreicht. Mit dem Auftreten des Künstlers wird erneut ein Spannungsbogen erzeugt und bis zum Schluss der Erzählung aufrecht erhalten. Das entspricht der Dramatik des Geschehens. Die Vorkommisse werden mit wenigen Ausnahmen im Imperfekt geschildert.
Der Erzählrhythmus wird nur dann unterbrochen, als berichtet wird, dass sich der Künstler zwar nicht bücken, aber vorbeugen „musste“, um den Abstand zwischen dem Grabhügel uns sich selbst zu überbrücken. Mit dem Hilfszeitwort „müssen“ wird angedeutet, dass es sich um eine Auftragsarbeit handelt, die der Künstler nur widerwillig verrichtet. Der Künstler ist bedrückt, die Arbeit bereitet ihm große Mühen.
Die Erzählung ist durch drei Absätze unterteilt. Abgerundet wird sie durch den einleitenden Satz und den Schlusssatz, in denen darauf hingewiesen wird, dass Josef K. träumt und dass er erwacht. Im ersten Abschnitt wird der Hinweg zum Friedhof geschildert. Im zweiten Abschnitt wird die Ankunft beschrieben und es werden die drei anwesenden Personen vorgestellt.
Im dritten – mehr als die Hälfte der Geschichte einnehmenden – Abschnitt werden der Fortgang der Arbeit und die Interaktion zwischen dem Künstler und Josef K. minutiös dargestellt. Die Graveurarbeit wird nicht beendet und Josef K. erlebt seine ebenfalls unabgeschlossen bleibende Beerdigung. Dann erwacht er voller Entzücken.
Es entzückt ihn jedoch scheinbar nicht, dass er seinen Tod nur geträumt hat und nun erleichtert darüber ist, dass er noch lebt. Vielmehr entzückt ihn der Anblick, der sich ihm aus dem Loch darbietet. Er sieht, wie sein Name in Zierbuchstaben über dem Grabstein vorbeizieht.
Was die dargestellten Personen betrifft, so spielt neben Josef K. auch der Künstler eine besondere Rolle. Er arbeitet zunächst zügig an den Buchstaben „Hier ruht“ und beginnt erst zu stocken, als er bemerkt, dass Josef K. ihn beobachtet. Der Künstler scheint zu erkennen, dass der Grabstein für seinen Beobachter bestimmt ist.
Erst als Josef K. mit dem Weinen aufhört, kann der Künstler weitermachen. Der erste kleine Strich, so wird geschildert, bedeutete für Josef K. die „Erlösung“. Wenn darüber hinaus berücksichtigt wird, dass der Künstler als Instrument nur einen Bleistift zur Verfügung hat, dann können sich Parallelen zur Arbeit des Schriftstellers und zu Kafka selbst ziehen lassen.
Dieser hat im wirklichen Leben phasenweise mit dem Problem der Schreibhemmung zu kämpfen. Wenn ein Schriftsteller darunter leidet, kommen das erste Wort und selbst der erste Buchstabe einer „Erlösung“ gleich. Das Unvermögen des Künstlers, den nächsten Buchstaben zu schreiben, bringt Josef K. zum Weinen. Er leidet mit dem Künstler, weil er weiß, was das für ein Gefühl ist. Deshalb zeigt er auch ein so großes Interesse an dessen Arbeit.
Andererseits hatte Kafka mit dem Problem zu kämpfen, dass seine Arbeit in der Versicherung zur Existenzerhaltung unbedingt notwendig war, ihn aber am Schreiben gehindert hat. Auch der in der Erzählung dargestellte Künstler hat mehrere Probleme:
Die Arbeit scheint ihm plötzlich keine Freude mehr zu bereiten, insofern plötzlich all „seine frühere Lebhaftigkeit“ verschwunden war und insofern die Buchstaben, die er nach der Unterbrechung zeichnet, nicht mehr so waren wie die ersten, die in den Stein graviert hat. Aber bereits der erste Strich erlöst Josef K. und nicht den Künstler.
Der Künstler ist vielmehr wütend, nachdem er den ersten Buchstaben von Josefs Namen vollendet hat. Der Künstler ist an der Bereitung des Grabes beteiligt. Den durch sein wütendes Stampfen lockert sich die Erde und Josef K. beginnt zu verstehen. Was versteht er? Hier ist entscheidend, dass ein Rollentausch angedeutet wird. Es wird offen gelassen, ob es tatsächlich Josef K. ist, der nun beginnt, ein Loch zu graben.
Kann es sein, dass sich der Künstler selbst sein Loch gegraben und sich so selbst seine „Erlösung“ verschafft hat. Erlösung wovon? Von der Belastung, die eine künstlerische Existenz mit sich bringt? Von den diversen Zwängen, mit denen sich jeder Mensch im Leben herumplagen muss? Sind der Künstler und Josef K. von Todessehnsucht getrieben?
Gehen die beiden Personen ineinander über? Ist Josef K. letztlich der Künstler, der sich selbst bei der Arbeit zusieht und so verunsichert? Handelt es sich bei dem geschilderten Wechselspiel zwischen dem Künstler und Josef K. um eine Charakterisierung des künstlerischen Prozesses? Kafka will vermutlich darauf hinaus, dass ein Übermaß an Reflexion – hier bildhaft ausgedrückt in der Beobachtung durch Josef K. – den künstlerischen Prozess massiv beeinträchtigen kann.
Der Künstler beginnt zu zögern, er zögert immer mehr. Als er sich dazu durchringt, weiter zu arbeiten, hat er den Schwung und die Buchstaben haben den Glanz verloren. Der Verlust der künstlerischen Kreativität kommt einem Tod gleich und der tatsächliche Tod wird dann sogar als Erlösung empfunden.
Aus Sicht eines Schriftstellers könnte das die Ansicht beinhalten, dass ein Schriftsteller keinen Grund mehr zu leben hat, wenn er nichts mehr zu Papier bringen kannn. Das würde auch erklären, warum Josef K. in Entzücken gerät, als er – im Traum – die Buchstaben vorbeziehen sieht. Die Buchstaben sind sein Leben und als er erwacht, merkt er, dass er noch lebt und folglich noch die Möglichkeit hat, zu schreiben. Auch das kann ihn entzücken.
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