1. Einleitung
Die Kurzgeschichte Die Tochter von Peter Bichsel erschien 1964 im Sammelband. Sie handelt primär von den Kommunikationsproblemen eines Ehepaars in Abwesenheit der eigenen, nun erwachsen gewordenen Tochter.
2. Hauptteil
2.1 Inhaltsangabe
In Die Tochter wartet ein Ehepaar auf die titelgebende gemeinsame Tochter Monika. Das Warten ist zu einem täglichen Ritual geworden, seitdem die Tochter in der Stadt arbeitet und das gemeinsame Abendessen von halb sieben um eine Stunde nach hinten auf halb acht verschoben wurde. Die Beiden tauschen sich in der eigenen Küche oberflächlich über ihre Tochter aus, ohne aber ein tatsächliches Gespräch zu führen und warten auf die Ankunft der Tochter.
2.2 Die Erzählperspektive
Peter Bichsel verwendet einen auktorialen, neutralen Erzähler. Das heißt, dass dieser nicht Teil der Geschichte ist, also keine erzählende oder generell an der Handlung teilnehmende Person, sondern außenstehend. Außerdem ist der Erzähler allwissend. Dies erkennt man in Die Tochter durch die zeitliche Unabhängigkeit.
Der Erzähler kennt das tägliche Ritual, weiß dass immer um halb sieben gegessen wurde, weiß dass sich die Essenszeit seit Beginn von Monikas Arbeitstätigkeit verändert hat, weiß auch, dass die Eltern in der nach Zwischenzeit nichts anderes tun, als zu warten. Vor allem aber kennt der Erzähler das Innenleben der Figuren.
Er kennt die Gedanken der Mutter über Monika („Sie war größer gewachsen als sie, sie war auch blonder und hatte die Haut, die feine Haut der Tante Maria“), er kennt auch das Prozedere, wie der Vater seinen Lohn erhält und dessen Emotionen während dessen.
Der Erzähler hat einen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren, d.h. er weiß mehr, es liegt also nach der Erzähltheorie von Gérard Genette eine Nullfokalisierung vor – was das zentrale Motiv der mangelhaften Kommunikation unterstützt.
2.3 Der Aufbau
Die Handlung bzw. der Plot, also das, was passiert ist recht überschaubar: Zwei Menschen warten auf die Tochter um gemeinsam zu Abend zu essen. Die Geschichte, also wie es passiert, wie es erzählt wird, ist ein wenig vielfältiger. Zwar gibt es keine Höhe- oder Wendepunkte, die Monotonie des Wartens spiegelt sich in der Dramaturgie wieder, doch erhält der Leser kurze Blicke in die Vergangenheit und vor allem in das Innenleben der Figuren.
2.4 Die Sprache
Sprachlich ähnelt Die Tochter einer Art universellem, wenn auch minimalistischen stream of consciousness. Die Sätze sind an sich nicht direkt kurz, doch sie wirken etwas abgehackt, etwas zusammenhangslos. Der Gedankenfluss zweier Personen.
Von dem Vergleich des Äußeren zwischen Maria und Monika springt der Text unmittelbar und übergangslos zu dem Plattenspieler, der in ihrem Zimmer steht und dann weiter zu den Lohnzahlungen des Vaters, ehe er zum Mittagessen Monikas in einem Tearoom kommt. Konstante ist lediglich die Verbindung zu der Tochter, die einzelnen Abschnitte haben keinen direkten kausalen Zusammenhang.
2.5 Einbeziehung von Hintergrundinformationen
Die Tochter war eine von 21 Kurzgeschichten des Sammelbandes Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen, welcher 1964 erschien und Peter Bichsels Durchbruch bedeutete. Bichsels zentrale Motivik ist bereits fest in Die Tochter integriert:
Er beobachtet und beschreibt subtil eine alltägliche Situation, eine vermeintliche Idylle, die aber durch die Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation wenig paradieshaft wirkt und hinter der bedrohlich Isolation und Einsamkeit lauern. In seiner weiteren Karriere sollte Bichsel sowohl dem Format der Kurz- und auch der Kürzestgeschichten, als auch dem Fokus auf das Absurde, auf die Zwischentöne des Alltäglichen und Trivialen treu bleiben.
2.6 Deutung der Erzählung
Der Auszug der Kinder ist stets gleichbedeutend mit einer deutlichen Reduzierung des Lautstärkepegels im Elternhaus. Peter Bichsels Kurzgeschichte Die Tochter setzt im vorherigen Moment an. Die namensgebende Tochter, Monika, ist zwar noch nicht ausgezogen – auch wenn die Eltern zu wissen glauben, dass sie „bald […] sich ein Zimmer in der Stadt nehmen wird“ – , sie ist aber bereits arbeitstätig. Das hat zur Folge, dass erst relativ spät abends heimkommt.
Die Eltern genießen diese Freizeit jedoch nicht, sie verbringen sie mit warten. Warten auf die heimkehrende Tochter. Es existiert eine gewaltige Kluft zwischen Mann und Frau, die bis auf das gemeinsame Kind wenig zu einen scheint, wie auch zwischen der Tochter und ihrer Eltern.
Diese Kluft führt zu schweren Kommunikationsproblemen. Der einzige Dialog der Geschichte führt ins Nichts. Wie seine Schwester sei die Tochter, sagt die Frau, um zu ergänzen, dass auch andere Mädchen rauchen.
Der Mann entgegnet nur, dass er das auch gesagt habe. Das Gespräch ist extrem oberflächlich, kaum existent. Worte, nur um die Stille zu überbrücken, um das Warten zu verkürzen. Sie kreisen irgendwie um die Tochter, ohne sie aber direkt aufzugreifen. Doch nicht nur untereinander gestaltet sich die Kommunikation als schwierig, auch zur Tochter scheint kein richtiger Draht mehr zu existieren.
Sie wird bald heiraten vermuten die Eltern, wissen jedoch nicht wen. Sie stellen sich vor, wie sie einem Mann anlächelt, wie sich dies und das mit Freundinnen erlebt. Sie können es sich nur vorstellen, denn die Tochter weiß nichts zu erzählen. Am deutlichsten tritt die Problematik im vorletzten Absatz hervor.
Die Mutter bittet die Tochter, etwas auf französisch zu sagen, der Vater entsprach diesem Wunsch, doch sie wusste nicht was sie sagen solle. Die Eltern sind so verzweifelt, dass sie sich bereits Kommunikation in einer aller Voraussicht nach fremden und für sie unverständlichen Sprache wünschen – doch nicht einmal diesem Wunsch kann Monika erfüllen.
Generell ist alles enorm oberflächlich, nicht nur das gesprochene Wort. Unterstützt durch die Struktur der Geschichte und die Erzählweise wird vieles angeschnitten, aber nichts thematisiert. Die Tochter raucht, wie auch viele andere Mädchen, doch wie stehen die Eltern dazu? Wieso raucht sie? Wieso ist das Rauchen wichtig?
Sie ist ein Bürofräulein, doch was für eines? Was ist ihre Aufgabe, bis auf die Bedienung einer Rechenmaschine? Braucht sie für das Büro französisch Kenntnisse? Wie stehen die Eltern zu ihrer Arbeit, zum erwarteten Auszug? Freuen sie sich, dass es dann „keine Stunde des Wartens mehr“ gibt, dass sie wieder wie gewohnt um halb 7 zu Abend essen können?
Es gibt einen starken Konflikt in der Geschichte: Die Lethargie auf der einen Seite, welche sich längst mit der gescheiterten Kommunikation abgefunden hat und der erbarmungslosen Einsamkeit, die daraus resultiert und der Unfähigkeit, diese zu überwinden. Alles dreht sich um „den leeren Platz Monikas“, auch wenn dieser nicht wirklich mit Leben, nicht mit zwischenmenschlichen Interaktionen gefüllt wird, selbst wenn die Tochter zu Hause ist.
Und so ist es auch bezeichnend, dass die einzige beschriebene Dekoration eine blaue Vase – blau als symbolische Farbe nach Sehnsucht und Kälte und insbesondere im englischen Sprachraum (feeling blue) auch für Melancholie und Traurigkeit – ein Geschenkvorschlag eines Modejournals war. Eine fast schon zynische Bemerkung, ist doch die Kommunikation der Werbetreibenden die einzig funktionierende in Peter Bichsels Die Tochter.
3. Schluss
Peter Bichsels Die Tochter handelt von Schwierigkeiten der Kommunikation, von der Oberflächlichkeit von Menschen, die im immerwährenden Trott gefangen sind und sich zunehmend voneinander entfernt haben. Die Kurzgeschichte ist primär ein kurzer Blick in den Alltag, eine schlichte Beobachtung.
Sie ließe sich aber problemlos um eine Moral erweitern: Dass die pure Koexistenz nicht zwangsläufig Zusammenleben bedeutet, dass mehr als Worte für gelungene Kommunikation nötig sind.
Es lässt sich eine simple, wie auch mächtige Aufforderung des bekennenden Sozialisten Bichsel in sie hineinlesen, dass die Menschen wieder aufeinander zugehen sollen und müssen, dass die Eltern akzeptieren müssen, dass ihre Kinder irgendwann einmal das Elternhaus verlassen um ein eigenes Leben zu führen, dass aber Mutter und Vater auch selbst eines abseits der Kinder brauchen, gleichzeitig aber auch der Appell an die Kinder, ihre Eltern weiterhin an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Um aus oberflächlichen Worten erfüllte Kommunikation zu erschaffen.
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