Reiner Kunze hat die Kurzgeschichte „Fünfzehn“ Mitte der Siebziger Jahre verfasst. Sie ist in seinem Buch „Die wunderbaren Jahre“ veröffentlicht, das 1976 in Frankfurt am Main im Fischer Verlag erschienen ist. Die Kurzgeschichte kann als eine Hommage an seine heranwachsende Tochter aufgefasst werden, die sich in dieser Zeit recht normal zu entwickeln scheint.
Was erfahren wir
Liebevoll und etwas hilflos beschreibt der Vater die Kleidung und das Zimmer seiner Tochter. Darin schottet sie sich ab, hört überlaut Musik. In ihrem persönlichen Reich gelten ihre eigenen Regeln, Menschen über dreißig findet sie alt. Als Fünfzehnjährige lässt sie sich von uralten Leuten nichts sagen. Der Vater versucht sie trotzdem zu verstehen und verhindert auch, dass die Mutter sie durch Anweisungen, doch Ordnung zu schaffen, aus ihren Träumen reißt.
Seine Tochter akzeptiert keine Sachzwänge und kümmert sich nicht um die Staubflusen unter ihrem Bett. So wischt der Vater heimlich zwischen ihren herumliegenden Sachen aus. Statt sie direkt auf auf ihre achtlos abgelegten Kleidungsstücke und Bücher anzusprechen, ersinnt er eine List, um mit seiner Tochter ins Gespräch zu kommen. Spinnen unter ihrem Bett locken sie aus der Reserve und entlocken ihr eine Reaktion des Ekels. Gemeinsam haben sie die Erkenntnis, dass Spinnen dort ihre Netze weben, wo sie es gemütlich haben und sich ungestört fühlen. Anstelle des erwartbaren Aktivismus nimmt die Fünfzehnjährige im Gegenzug von einem Klavier Besitz. Fortan dient es zum Hochstellen ihrer Schuhe. Gleich, ob es ihr eigenes Klavier oder das ihrer Eltern ist, das musikalische Möbelstück beschützt sie vor Spinnen. Dass das Klavier in ihr Blickfeld gerückt ist, zeugt von ihrer musischen Veranlagung.
Hinweis: Eine ausführliche Inhaltsangabe der Geschichte „Fünfzehn“ von Reiner Kunze haben wir in einem anderen Artikel hier auf der Seite.
Aus welcher Perspektive wird geschildert
In der Kurzgeschichte tritt der Vater als Ich-Erzähler auf. Beschreibungen aus dem Umfeld seiner Tochter wechseln ab mit Überlegungen in Frageform und Erklärungsversuchen, die angesichts der beschriebenen Situation zuweilen zu hochragend ausfallen, wie er selber bemerkt. Deskriptive Passagen mit zusätzlichen Informationen in Paranthesen werden gefolgt von solchen distanzierter Betrachtung.
Aufbau und Stil der Geschichte
Die Kurzgeschichte hat keine Einführung, sondern ist eine Momentaufnahme zur Lebenshaltung einer Fünfzehnjährigen in den siebziger Jahren. Man kann davon ausgehen, dass der Teenager auch wieder anders angezogen sein wird, aber ihre Protesthaltung wird noch eine Weile andauern, mindestens für die Dauer ihrer Pubertät. Eine Spannungskurve ist demnach nicht feststellbar, jedoch bringen nistende Spinnen ein Element in die Handlung ein, das näherer Interpretation bedarf, um die Geschichte als eine den Zeitgeist widerspiegelnde Momentaufnahme abzurunden.
Was fällt sprachlich auf
Der Erzähler bedient sich bei den Beschreibungen einiger fast poetischer Vergleiche wie „Hügellandschaft“ oder „Niagara Fälle“, und erfindet bei den Versuchen, geistige Freiheit zu verstehen, Begriffe wie „unlustintensiv“ und „Überschallverdrängung“. Seine Tochter äußert in der Episode nur einige Laute, die an phonetisches Englisch erinnern. Kreativer, innovativer Sprachgebrauch einer „hippen“ Jugend, wie man ihn heute erlebt, fehlt.
Jugendliche im Wandel der Zeit
In den pointierten Beschreibungen zeichnet Reiner Kunze die farbige und etwas psychedelische Lebenswelt, die kennzeichnend für die siebziger Jahren gewesen ist.
Durch ihre Aufmachung haben Jugendliche durch die Jahre viel ausdrücken wollen. Der Zeitgeist in den Siebzigern stand auf friedlichem Protest. Erziehungsversuche werden in der Geschichte erwogen, erscheinen aber ziemlich fruchtlos.
Der Vater beschreibt das Outfit seiner Tochter als lässig, jedoch nicht als aufreizend. Zu einem sehr knappen Minirock trägt sie sportliche, bemalte Sneakers, nicht etwa Stöckelschuhe. Mit den Technik besessenen smartphone Benutzern der heutigen Zeit hat sie nichts gemein, wenngleich sich auf ihren Tennisschuhen ein großer Freundeskreis eingetragen hat, wie er auch bei der SMS-schreibenden Handy Generation zu finden ist. Ihr extra langer Schal hat nichts Provozierendes, selbst wenn er von mehreren Großmüttern gestrickt sein könnte.
Mit dem Schal als „Doppelschleppe“ wirkt sie eher wie eine Prinzessin, die in ihrer eigenen Welt lebt. Sie setzt nicht auf Schockeffekte mittels Halsbändern mit Nieten, Piercings und Sicherheitsnadeln wie die Punks der späteren Jahre. Ihre getuschten Augen sind zwar auffällig, stellen aber noch keine Persönlichkeitsveränderung dar, wie man sie bei Anhängern der Gothic Bewegung beobachten kann, die farbige Pupillen, Gesichter nur in schwarz-weiß und andere krasse körperliche Veränderungen zur Schau tragen. Das einzig Emphatische an diesem Teenager der damaligen Zeit ist ihre Grundeinstellung, alle über dreißig als „Grufties“ anzusehen, denen der Blick auf die Geheimnisse ihres „uniquen“ Lebens verstellt ist.
Interpretation
Der Ich-Erzähler setzt sich mit den gängigen und persönlichen Vorlieben seiner Tochter auseinander. Er respektiert ihren Drang nach Freiheit, obwohl seine Nerven unter ihrer lauten Musik und, zusammen mit der Mutter, unter ihrer Unordentlichkeit leiden.
Er möchte dies Mädchen in der Pubertät verstehen. Regelmäßige Wiederholung aufräumender Bestrebungen führe zur Abstumpfung des Geistes und ihrer Seele, mutmaßt er. Bei all diesem Verständnis bleibt ihm nur, zu testen, ob sie sich vielleicht schon eine Gegenwelt aufgebaut hat, in der intelligente Interaktion und Kommunikation mit der „fremden“ älteren Generation möglich ist. Er konfrontiert sie mit der Erfahrung, dass zugelassener Schmutz ungebetene Gäste anzieht. Und nutzt dabei ihre Aversion gegen Spinnen aus.
Eine Deutung erlauben die auftretenden Spinnen als phantasievolle Eindringlinge, weil sie sich bevorzugt dort aufhalten, wo Biologie und Mensch einen gleichberechtigten Stellenwert haben. In einer Welt großzügiger Staubflocken und faszinierender kleiner Gegenstände nisten sich Tiere besonders gerne ein. Der Teenie toleriert die kleinen Verschwörer eigentlich nicht, ihre Nester oder Spinnennetze sind unerwünscht. Der Vater zeichnet jedoch ein Bild dunkler getuschter Augen und Wimpern, die an Spinnen erinnern. Die Tierchen fühlen sich bei friedliebenden Menschen, und, weitergedacht, bei solchen wohl, die Haschisch konsumieren.
Durch diese Ausdeutung erhält die Geschichte einen moralischen Aspekt.
Väterliche Sorgen
Der Vater könnte besorgt sein, ob seine Tochter durch den Umgang mit bestimmten Freunden mit Drogen in Kontakt gekommen ist. Er sieht sich gezwungen, sich einzumischen und zu handeln, wohl wissend, dass sie für herkömmliche Appelle nicht zugänglich ist.
Seine Sorge könnte der Zukunft der Tochter gelten, ob sie als Aussteigerin nicht auf die schiefe Bahn gerät, wenn sie ihre Verweigerungshaltung beibehält und die Werte der Erwachsenen konstant missbilligt.
Vielleicht möchte er aber auch nur in Erfahrung bringen, ob sie fähig sein werde, es in ihrem Leben besser zu machen als ihre „alten“ Eltern, und ob sie dafür vielleicht „einen Plan“ hat.
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